MVP-Zielgruppenanalyse in regulierten Umgebungen
Die meisten MVPs scheitern nicht an der Technologie. Sie scheitern, weil Teams nicht wissen, für wen sie bauen.
In regulierten Umgebungen – Health Tech, Insurance, Public Sector – ist dieses Problem akut. Gematik-Compliance, BaFin-Anforderungen oder OZG-Vorgaben fressen Ressourcen. Wer dann auch noch die falsche Zielgruppe adressiert, verbrennt Monate.
Drei Fragen verhindern das.
Warum Zielgruppenanalyse in regulierten Märkten anders funktioniert
In unregulierten Märkten kannst du iterieren. Schnell launchen, Feedback sammeln, pivoten. In regulierten Umgebungen kostet jeder Pivot Monate – Zertifizierungen, Audits, Compliance-Prüfungen.
Das bedeutet:
- Zielgruppe muss vor dem Build stehen – nicht danach
- Regulatory Constraints definieren die Feature-Auswahl – nicht Wunschdenken
- Feedback-Zyklen sind länger – jede Iteration ist teurer
Bei einem Gematik-Projekt habe ich erlebt, wie ein Team sechs Monate in Features investierte, die die Hauptzielgruppe nicht brauchte. Die Compliance war da – aber kein Product-Market Fit. Das hätte eine saubere Zielgruppenanalyse verhindert.
Die drei Kernfragen
1. Was macht es?
Funktionen auflisten. Sachlich, ohne Interpretation.
Beispiel – Gematik-konforme Gesundheitsplattform:
- Vitaldaten erfassen und übertragen
- ePA-Integration (elektronische Patientenakte)
- Arzt-Patienten-Kommunikation
- Medikamentenerinnerungen mit Compliance-Tracking
2. Welchen Nutzen bringt es?
Jede Funktion in konkreten Mehrwert übersetzen.
| Funktion | Nutzen |
|---|---|
| Vitaldaten erfassen | Proaktive Gesundheitsüberwachung, frühere Intervention |
| ePA-Integration | Nahtloser Datenaustausch, keine Doppeldokumentation |
| Arzt-Patienten-Kommunikation | Reduzierte Praxisbesuche, schnellere Abstimmung |
| Medikamentenerinnerungen | Therapietreue steigt, Komplikationen sinken |
3. Für wen ist es gedacht?
Wer profitiert am meisten? Nicht: Wer könnte es theoretisch nutzen.
Mögliche Zielgruppen für die Gesundheitsplattform:
- Chronisch Kranke (Diabetes, Herzinsuffizienz): Höchster Leidensdruck, größter Nutzen aus kontinuierlichem Monitoring
- Pflegende Angehörige: Benötigen Überblick über Vitalwerte und Medikation
- Hausärzte in ländlichen Regionen: Weniger Praxisbesuche bei gleichbleibender Versorgungsqualität
Die Kombination dieser drei Fragen zwingt zur Präzision. Kein "wäre auch interessant für..." – sondern: Wer hat das akuteste Problem?
Zielgruppen priorisieren
Nicht jede Zielgruppe eignet sich für MVP-Validierung. Entscheidend:
Primärzielgruppe auswählen nach:
- Größter Schmerz: Wer leidet am meisten unter dem Status quo?
- Zahlungsbereitschaft: Wer bezahlt für die Lösung?
- Erreichbarkeit: Wer ist für Validierung zugänglich?
- Regulatory Fit: Für wen lohnt sich der Compliance-Aufwand?
Beispiel aus einem Insurance-Projekt:
Ursprüngliche Annahme: Plattform für alle Versicherungsnehmer. Nach Analyse: Fokus auf Gewerbekunden mit komplexen Policen – höherer Schmerz, höhere Zahlungsbereitschaft, weniger Nutzer für MVP-Validierung.
Ergebnis: Schnellere Validierung, klareres Feedback, bessere Entscheidungsgrundlage.
Randgruppen nicht ignorieren
Während der Fokus auf der Primärzielgruppe liegt, können periphere Nutzer wertvolle Signale liefern.
Bei einem Connected-Product-Projekt (Building Automation) war die Primärzielgruppe Facility Manager. Aber: Energieberater nutzten das Produkt unerwartet intensiv – ein Marktsegment, das ursprünglich nicht auf dem Radar war.
Regel: Randgruppen-Feedback erfassen, aber nicht die Roadmap daran ausrichten. Erst validieren, ob das Segment groß genug ist.
Häufige Fehler in regulierten Umgebungen
Fehler 1: Zielgruppe zu breit
Problem: "Alle Patienten" oder "alle Versicherungsnehmer" ist keine Zielgruppe.
Lösung: Eingrenzen bis es wehtut. Lieber "Typ-2-Diabetiker über 60 mit Mehrfachmedikation in ländlichen Regionen" als "Menschen mit Diabetes".
Fehler 2: Regulatory als Afterthought
Problem: Erst bauen, dann Compliance prüfen.
Lösung: Regulatory Constraints von Tag 1 in die Zielgruppenanalyse einbeziehen. Manche Zielgruppen sind regulatorisch teurer zu bedienen als andere.
Fehler 3: Feature-Überfluss
Problem: Zu viele Features, um mehrere Zielgruppen gleichzeitig zu bedienen.
Lösung: Ein Kernfeature, eine Zielgruppe, ein Validierungszyklus. Alles andere ist Premature Scaling.
Fehler 4: Feedback falsch interpretieren
Problem: Feedback von der falschen Zielgruppe wird als Produktproblem interpretiert.
Lösung: Feedback immer nach Zielgruppensegment auswerten. Wenn Randgruppen unzufrieden sind, ist das kein Signal für Produktänderungen – es ist ein Signal für Zielgruppenklarheit.
Fehler 5: Zu lange Zyklen
Problem: In regulierten Umgebungen werden Testzyklen oft zu lang, weil "Compliance Zeit braucht".
Lösung: Compliance und Validierung parallelisieren. Während Zertifizierung läuft, kann mit Prototypen validiert werden – ohne Live-Daten, ohne Compliance-Risiko.
Fazit
Zielgruppenanalyse in regulierten Umgebungen ist kein Nice-to-have. Sie ist der Unterschied zwischen sechs Monaten gezielter Entwicklung und sechs Monaten Verschwendung.
Die drei Fragen – Was macht es? Welchen Nutzen bringt es? Für wen? – erzwingen Klarheit, bevor die erste Zeile Code geschrieben wird.
In Märkten, wo jede Iteration teuer ist, ist diese Klarheit kein Luxus. Sie ist Voraussetzung.